Gedanken zu Europa, teilweise inspiriert von Timothy Garton Ash

eingestellt 17.11.24, erweitert im August 25

Foto: StH(1982) – manches scheint alter Kaffee, in dessen Satz es zu lesen gilt?

Europa heute mit seinen Herausforderungen

Europa ist gerade wieder in vieler Munde, sei es im Zusammenhang mit Trumps versuchtem Zolldiktat oder Putins versuchtem Diktat zu einer ihm genehmen Ordnung in der sich wehrenden Ukraine. Oder auch als „Festung“ gegen Menschen, die in Europa Schutz, oder auch Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten suchen, um zu ihrem eigenen wie auch unsere aller Wohlstand beizutragen.

Wo steht Europa? Wie verhält es sich gegen solch äußeren oder auch manchen inneren Druck? Agiert es geeint oder basierend auf Individualinteressen? Wo kommt das derzeitige Europa her? Auf welchen Erfahrungen und Erkenntnissen fußt es? Was ist es uns wert?

Die einen meinen, es müsse mehr Europa geben, die Anderen wollen Europa beschneiden und wieder mehr „national“ oder „einzelstaatlich“ denken und handeln. Aber ist nicht gerade in der Auseinandersetzung mit Trump oder Putin ein geeintes Europa, das mit einer Stimme spricht, „schlag-„fertiger, stärker, einflussreicher und resilienter?

Und doch scheint dies im Europa der 27, dessen Entscheidungen in vielen zentralen Politikfeldern und Fragen auf dem Einstimmigkeitsprinzip basiert, die Entscheidungsfindung fürchterlich langwierig und anstrengend Es ist keineswegs immer Orban, der querschießt. Auch das „German Vote“ erschwert europäisches Handeln dort, wo z.B. Interessen der deutschen Autoindustrie „zu verteidigen“ sind. Oder Irland, wenn es um niedrige Unternehmenssteuern oder die Interessen der (meist nicht europäischen) „Techgiganten“ geht. Also jeder Mitgliedstaat betrachte auch seine eigene Nase und vergesse das Kehren im eigenen Eingangsbereich nicht!

Timothy Garton Ash zu Europa

Vor ein paar Wochen stieß ich durch einen Freund auf das Buch „Europa“ des britischen Historikers und Publizisten Timothy Garton Ash, aus dem ich einige mir bemerkens- und bedenkenswerte Gedanken hier zitieren möchte:

Timothy Garton Ash entwickelt seine Gedanken um die Frage von Einheit und Vielfalt vom geschichtlich wiederholt genutzten Konstrukt von Rom aus, ob das alte römische Reich, das Papsttum, das „heilige römische Reich deutscher Nation“ oder auch die „römischen Verträge“, die in der heutigen Europäischen Union eine wichtige Rolle spielen

Er schreibt: “ (…) Konrad Adenauer, der Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland, bemerkte ein wenig vorsichtiger: „So ist uns das große, gemeinsame Erbe, für das Rom immerwährendes Zeugnis ablegt, zugleich Mahnung und Hoffnung.“ – Als ich in den späten 1960er Jahren zum ersten Mal den Kontinent bereiste, war die Europäische Gemeinschaft noch weitgehend mit dem Reich Karl des Großen um 800 identisch. Erst 1973, mit dem Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks zu diesem 6. oder 7. Rom begannen die nicht-karolingischen Barbaren Karls Garten beizutreten. Aber auch wir Barbaren haben auf unsere ganz eigene Art und Weise auf Rom zurückgeblickt und es nachgeahmt. Die römische Frage ist bis heute das große politische Rätsel Europas. Es ist das Rätsel von Einheit und Vielfalt. Jede Generation fragt sich, wie Europa am besten funktioniert. Einige sagen: mehr Einheit, mehr Rom – das ist der Tenor von tausend Brüsseler Reden. Nein!, erwidern Andere: Mehr Vielfalt, weniger Rom! Nicht die Nachahmung Roms, so argumentieren sie, sondern das, was der Historiker, Walter Scheidel, die Flucht aus Rom nennt, habe unserem Kontinent seine Dynamik verliehen. In Erweiterung einer alten These, wonach Europas Vielfalt der historische Schlüssel zur Erklärung seines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs ist, argumentiert Scheidel, dass es der poströmische Polyzentrismus war, der Europa im Gegensatz zu zentralisierten Einheit der asiatischen Reiche zum Geburtsort der Moderne machte. Ohne Polyzentrismus keine Moderne. Er wirft jedoch die Frage auf, ob das auch der Fall gewesen wäre, wenn es Rom gar nicht erst gegeben hätte. Ein Rom, von dem man fliehen, von dem man aber auch träumen konnte.

Einheit und Vielfalt sind Europas Yin und Yang, seine These und Antithese, die stetig auf der Suche nach ihrer schwer fassbaren Synthese sind.

Drängt man zu sehr auf Einheit, beginnt die erzwungene Union zu zerfallen. Drängt man zu sehr auf Vielfalt, bekämpfen sich die Europäer am Ende gegenseitig. Irgendwann marschiert dann jemand ein, um das innere Chaos zu beseitigen, wie Fortinbras am Ende von Hamlet – der Fortinbras von morgen könnte ein Chinese sein. Das „heilige, römische Reich“ hielt sich gerade deshalb so lange, weil es eine tiefe, einigende Mystik mit dem kombinierte, was der Historiker, Peter Wilson, einen Rahmen nennt, der lokale und besondere Freiheiten bewahrt und Vielfalt, Autonomie und Unterschiede respektiert. Bei der Aushandlung dieser Unterschiede, so Wilson weiter, hing der Erfolg in der Regel von Kompromissen und Schummeleien ab. Obwohl das Imperium nach Außen Einheit und Harmonie betont, funktionierte es in Wirklichkeit, indem es Meinungsverschiedenheiten und Verstimmungen als ständige Elemente seiner Innenpolitik akzeptierte. Wenn das vertraut klingt, sehe ich das als ein Zeichen der Hoffnung, nicht der Verzweiflung für die Zukunft der heutigen europäischen Union.“

Wie kam es eigentlich zur Europäischen Union?

Timothy Garton Ash ist bekanntlich Brite und somit heute kein EU-Bürger mehr. Aber er bereiste Europa viel und intensiv und das auch in Zeiten des Umbruchs und danach in dessen Osten. Und so führt er aus:

Bronisław Geremek glaubte mit jeder Faser seines Seins an das Projekt, ein besseres Europa aufzubauen. Geremeks Geschichte ist einzigartig, aber die Grundform seines Europäertums ist typisch für mehrere Generationen von Baumeistern Europas, die unseren Kontingent zu dem gemacht haben, was er zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist.

Wenn man sich anschaut, welche Argumente für die europäische Integration in den verschiedenen Ländern von den 1940ern bis zu den 1990er Jahren vorgebracht wurden, scheint jede nationale Geschichte auf den ersten Blick sehr unterschiedlich zu sein. Aber wenn man ein wenig tiefer gräbt, findet man immer denselben Grundgedanken: „Wir waren an einem schlimmen Ort, wir wollen an einem besseren Ort sein. Und dieser bessere Ort heißt Europa.

Die Alpträume, aus denen die europäischen Nationen zu erwachen versuchten, waren vielfältig und unterschiedlich.Für Deutschland war es die Scham und Schande des verbrecherischen Regimes, das Bronings Vater ermordet hatte. Für Frankreich war die Demütigung von N iederlage und Besatzung. Für Großbritannien der wirtschaftliche und politische Niedergang. Für Spanien eine faschistische Diktatur und für Polen eine kommunistische Diktatur. Europa mangelt es nicht an Alpträumen, aber für die Menschen in all diesen Ländern war die Grundform des pro-europäischen Arguments die gleiche. Diese Form war ein langgezogenes, überschwängliches Häkchen: ein steiler Abstieg, eine Kehrtwende und dann eine aufsteigende Linie, die in eine bessere Zukunft führte. – eine Zukunft namens Europa.

Zu den Gründungsvätern der Europäischen Union gehörten Menschen, die man die „14er“ nennen könnten, die sich noch lebhaft an die Schrecken des 1. Weltkriegs erinnerten. Einer dieser 14er war der britische Premierminister Harold Mc Millan, der mit brechender Stimme von der verlorenen Generation seiner Zeitgenossen sprach.

Nach ihnen kamen 39er wie Geremek, unauslöschlich geprägt von den Traumata von Krieg, Gulak, Besatzung und Holocaust. Das gilt genauso auch für die französische Politikerin Simone Veil, die Ausschwitz und Bergen-Belsen überlebte.

Und dann waren da noch die 68er, die sich gegen die kriegsgeschädigte Generation ihrer Eltern auflehnte, von denen einige aber auch die Diktaturen in Süd- und Osteuropa aus erster Hand kannten. Jede Generation hatte ihren langen Schweif.

Die Nach-39er, wie Helmut Kohl z.B., der zu jung war, um im 2. Weltkrieg zu kämpfen, aber dennoch von ihm geprägt war. Und die Nach-68er wie mich.

Nach den 68ern kamen die 89er, die in ihren späten Jugendjahren oder Anfang 20 waren, als sie die samtenen Revolutionen von 1989, die den Kommunismus in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei beendeten, den Fall der Berliner Mauer und die anschließende Auflösung der Sowjetunion erlebten,

Wir müssen uns natürlich davor hüten, die Nachkriegsgeschichte Europas in ein Märchen zu verwandeln, in dem weise, tugendhafte Helden aus ihren Erfahrungen in der Hölle lernen, und daraus dann den Himmel schaffen. Die wahre Geschichte ist voll von Staaten, die ihre nationalen Interessen verfolgen, von verfallenden Imperien, hinterhältigen Machtspielen mit harten Bandagen kämpfendem Wirtschaftslobbyismus, diplomatischen Kompromissen, persönlichen Ambitionen und nicht zuletzt dem historischen Glück, Fortuna, das laut Machiavelli die halbe Erklärung für die meisten politischen Ereignisse ausmacht. Doch irgendwo dazwischen war, über vier Generationen hinweg, der Erinnerungsmotor am arbeiten, in den Köpfen und Herzen der führenden Politikern, aber auch in jenen von Millionen Europäern. Und so waren wir hoffnungsvoll unterwegs in Richtung dieser besseren Zukunft, die sich Europa nennt.

Die Probleme beginnen, sobald man im gelobten Land angekommen ist. Im zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hatten wir zum ersten Mal eine Generation von Europäern, die nichts anderes kannte als ein friedliches, freies Europa, das hauptsächlich aus liberalen Demokratien bestand. Kein Wunder, dass ihnen das selbstverständlich erschien. Diejenigen, die im ehemaligen Jugoslawien, oder in Ländern wie der Ukraine, Weißrussland und Russland aufgewachsen sind, bildeten wichtige Ausnahmen.

Diese neue Generation könnte man die Nach-89er nennen, oder, um einen anschaulichen Begriff aus der Zeit nach der Apartheit in Südafrika zu verwenden, die Born frees, die in Freiheit Geborenen.

Erinnerungen an Dinge, die man persönlich gesehen und gehört, genossen oder ertragen hat, sind eine unvergleichlich starke Motivationskraft. Aber die unmittelbare, persönliche Erinnerung ist nicht die einzige Art und Weise, wie das wissen über vergangene Dinge weitergegeben werden kann.

So war beispielsweise der D-Day ein wichtiger Moment für mich, obwohl er elf Jahre vor meiner Geburt stattfand. Eine einzige, persönliche Begegnung mit einem Veteranen oder Überlebenden, kann das ganze Leben verändern. Und dann ist da noch die Arbeit von Historikern, Romanautoren, Journalisten und Filmemachern, die versuchen, die Toten um der Lebenden willen lebendig zu machen.

Der Ausschwitz-Überlebende, Elie Wiesel, nannte diesen Prozess „Erinnerungstransfusion“. Die größte Chance der Zivilisation besteht darin, dass wir aus der Vergangenheit lernen können, ohne sie selbst noch einmal durchleben zu müssen.“

noch verfügbare Erinnerung

Ja: ich weiß noch, wie es im Europa vor Schengen war, meine Eltern haben noch Krieg und Zerstörung am eigenen Leib erlebt – mit unseren „Erbfeinden“. Wer im Geschichtsunterricht nur ein wenig aufgepasst hat, kann ein vereinigtes und in friedlicher Nachbarschaft lebendes Europa wirklich schätzen, in den letzten Jahrhunderten war dies eher die Ausnahme als die Regel! Meinen Kindern, Kindeskindern – und letztlich uns allen wünsche ich, dass wir lernen, ohne die früheren Schrecken selbst nochmals durchleben zu müssen – Sie und wir alle werden genug mit den jetzigen und vermutlich künftigen, uns teilweise – und zum Glück – noch unbekannten Schrecken zu tun haben.

Wissen wir eigentlich auch heute noch, was wir leichtfertig aufs Spiel stellen, oder gar wegwerfen, wenn wir (rechts-)populistisch wählen?

Einfache Lösungen und ihre Konsequenzen

Die einfachen „Lösungen“ scheinen auf dem Vormarsch. Politiker und Parteien, die solche versprechen eilen von Wahlsieg zu Wahlsieg. Sie scheinen immer mächtiger und einflussreicher zu werden – ob in Amerika oder Europa.

Und tatsächlich erscheint die Welt unerträglich kompliziert. Pluralismus des Denkens und Lebens erscheint anstrengend. Einfache Lösungen hingegen erscheinen attraktiv. Wie schön wäre es, in einer übersichtlichen Welt zu leben, wo alle so sind und denken wie ich?

Meinem Geschlecht, meiner Religion, meiner politischen Einstellung angehören?

Meine Einstellungen und Ansichten teilen. Keine anstrengenden Meinungsverschiedenheiten oder gar Streitigkeiten?

100 % für die von mir favorisierte Partei?

Derartige „Führersysteme“, in denen mir eine starke Persönlichkeit die Qual des eigenständigen Denkens, die Verantwortung und somit die Last der Entscheidung abnimmt, gab es in vielen Zeitaltern und Weltregionen.

In einigen Ländern gibt es diese noch immer.

Und in offensichtlich immer mehr Ländern sehnen sich scheinbar immer mehr Menschen danach.

Wäre das Leben in einem derartigen Staat tatsächlich einfach? Vielleicht! Aber auch schön oder interessant?

Mit wem sollte ich diskutieren? An wessen Meinung mich reiben? An wessen Argumenten wachsen? Über wessen Kultur staunen?

Meinungsfreiheit? Presse- und Versammlungsfreiheit: Wollen Orban, Milley, Trump oder Putin eher nicht – zumindest nicht für die anderen!

Pluralismus? Besser nicht!

Offenheit für das Fremde? Gott bewahre! Viel zu anstrengend! Zu kompliziert!

Deutsche Leitkultur will ich! Was auch immer das genau sein soll! Da ich nicht genau weiß, was es sein könnte, sollen andere (starke Personen) das lieber für mich entscheiden!

Denken wir das mal zu Ende:

  • Alle sehen aus wie ich.
  • Alle denken und glauben dasselbe wie ich.
  • Alle wollen und wählen das Identische wie ich

In jener Welt habe ich stets den Eindruck, in einer Welt von Millionen Spiegeln rumzulaufen – überall begegne ich nur mir selbst!

Alles bleibt, wie es ist, das Leben ist leicht, geordnet und alle Probleme lösen Andere für mich. Eigentlich gibt es ja überhaupt keine Probleme.

ALLES ist klar, eindeutig und von Anderen für mich entschieden und gelöst. Die „perfekte Gleichheit“, die „grenzenlose Freiheit“ von Belastungen und Kompliziertheit/Komplexität.

Das Paradies völlig ohne Problem oder Herausforderung? Oder eher die Hölle der gleichförmigen Langeweile?

Will ich in einer derartigen Welt leben? Möchtest Du es?

Und Europa? Oh mein Gott! Die Brexitiers meinten, ohne Europa ginge es uns (Briten) besser – ging offensichtlich nicht ganz auf. Vielleicht nicht radikal genug umgesetzt? Schon stürmt einer, der sich zunächst nach dem Brexit zunächst einen schlanken Fuß machte, die Hitlisten der Wahlprognosen: Nigel Farage.

Auch in anderen europäischen Ländern, ob in den Niederlanden, Italien, oder möglicherweise demnächst Spanien, Portugal, Frankreich und selbst Deutschland, wird von einigem Parteien vom „Europa der Nationen“, von „weniger Europa und mehr nationaler Souveränität geschwafelt, und zunehmend vielen Wählenden scheint dies zu gefallen.

Wissen die, was sie wegwerfen? Warum wählen so viele junge Menschen national bzw. nationalistisch rechts? Geben Timothy G. Ashs oben zitierte Gedanken auch einen Teil der Antwort?

Nun ist bekannt, dass jede Generation wie jeder Mensch seine/ihre eigenen Erfahrungen machen muss, selbst wenn sie schmerzhaft werden.

Aber ist es nicht auch legitim, zur möglichen Schmerzvermeidung auf Gedanken wie die von Timothy G. Ash hinzuweisen?

Ist das „altklug“ oder gar „altersstarrsinnig“? Oder beinhaltet es auch ein wenig „Altersweisheit“ und eine Portion „gesunden Menschenverstandes“?

Es heißt: Geschichte wiederholt sich nicht! Das bleibt sicherlich zu hoffen!