Der „Clan“ der internationalen Hilfsorganisation

eingestellt am 9.2.25

Foto: StH – ein Buschflieger wird auf dem Airstrip in Belet Weyne betankt – 1993

Hiran-Region/Somalia im September 1991,

Die internationale Hilfsorganisation, für die Sven in Somalia ist, ist in vier Regionen des Landes tätig, und hat ihren Sitz der Hauptdelegation auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhauses in der Hauptstadt Mogadischu. Von dort aus verteilen sie Hilfsmittel in Zentralsomalia von Mogadischu aus gen Norden bis in die Region Beledweyne nahe der äthiopischen Grenze.

So befindet sich Sven auch im September 1991 in der am Shebele-Fluß gelegenen Region „Hiran“, um dort insgesamt etwa 500 Tonnen Lebensmittel und Saatgut zu verteilen. Diese Verteilung von humanitären Hilfsgütern soll die Ernährungssicherung aus eigener landwirtschaftlicher Produktion der Bevölkerung nach Dürre und Kriegshandlungen unterstützen.

Nach einer in einem lokalen Hotel verbrachten Nacht trifft Sven am kommenden Morgen Ibrahim in Beledweyne. Ibrahim ist ein lokaler Mitarbeiter aus Mogadischu, der dem hauptsächlich im Norden Somalias um die Stadt Harguesa angesiedelten Isaaq-Clan, einer der sechs größten Clanfamilien im Land, angehört.

Alle Clans Somalias haben eine Repräsentanz ihrer Stammesbevölkerung in der Hauptstadt, auch wenn ihr Hauptstammesgebiet in anderen Regionen liegt. Und so lebt und arbeitet auch Ibrahim in Mogadischu, und arbeitet dort als Fahrer für die internationale Hilfsorganisation.

Nun erzählt er Sven, er sei mit einem der in Mogadischu von der Hilfsorganisation benutzten PKW bei einer Fahrt in der Hauptstadt von bewaffneten Räubern angehalten worden sei, die das Auto dann gestohlen hätten.

Vermutung zum „Verkaufsweg“

Er sei sich aber sicher, dass die Räuber versuchen würden, den Wagen über die Grenze nach Äthiopien zu bringen, um ihn dort zu verkaufen. Da sie dafür sehr wahrscheinlich über Beledweyne kämen, habe er sich gestern hierhin aufgemacht. Die Wachen am Checkpoint auf dem Hügel oberhalb der Stadt, den jeder Reisende passieren muss, habe er auf das gestohlene Auto aufmerksam gemacht. Er habe es ihnen mit Typ und Kennzeichen beschrieben, doch sei es am Aufkleber der Hilfsorganisation ohnehin leicht zu erkennen. Er habe die Wächter gebeten, den Wagen dort unter einem Vorwand festzuhalten und ihn zu informieren, sollte das Auto tatsächlich am Checkpoint auftauchen. Seinen in Beledweyne ansässige Clanältesten (eine Art „Konsul“ des Clans in der Hiran-Region) habe er ebenfalls informiert.

Und tatsächlich bekommen sie einige Zeit später eine Information vom Checkpoint, dass der gesuchte PKW dort angekommen sei und nun dort festgehalten werde. Ibrahim informiert seinen örtlichen Clan-Vertreter und begibt sich mit ihm zum Checkpoint.

Der Prozess

Nachdem dort nun auch die Clan-Zugehörigkeit der Räuber geklärt ist, wird eine traditionelle Gerichtssitzung anberaumt, bei der die jeweiligen örtlichen Clan-Vertreter jeweils die Interessen der beteiligten Clans vertreten. Ibrahim bittet auch Sven, mit ihm zu Ort der Verhandlung zu kommen.

Dort wird Sven ein Stuhl angeboten, und zu Beginn werden von allen Beteiligten einführende Reden gehalten. Den Vorsitz hat der Älteste des ortsansässigen Hawiye-Clans. Nach den Ältesten ergreift auch Ibrahim das Wort, und schildert den Raub in Mogadischu. Danach zeigt er auf seinen Issaq-Vertreter und sagt, das sei sein Clanältester, bevor er auf Sven weist, und sagt, dass sei der Älteste seines Arbeitsclans, also der internationalen Hilfsorganisation, für die er zum Wohle der Somalis arbeite.

Nun beginnt ein etwa zweistündiges Palaver, das Sven natürlich nicht versteht, doch übersetzt ihm Ibrahim das Gesagte in groben Zügen.

Wichtig für Somalis ist stets, dass alle ihr Gesicht behalten können, und letztendlich eine gütige Einigung erzielt wird, die ggf. Kompensationszahlungen enthält, aber weitere Feindseligkeiten, oder gar Gewaltanwendung oder Kriegshandlungen vermeidet.

Und so wird auch hier ein Urteil getroffen und vereinbart: Der Clan der internationalen Hilfsorganisation soll einen Kompensationsbetrag in sechsstelliger Höhe in Somali-Schilling zahlen, dafür aber sofort den Wagen zurückerhalten.

Über Recht und Gerechtigkeit

Einerseits kann es befremdlich erscheinen, dass der Geschädigte (Beraubte) auch noch zahlen soll, um das Raubgut zurückerhalten. Andererseits vermeidet eine derartige Lösung weitere Gewaltanwendung, da alle Seiten ihr Gesicht erhalten können. Und da zu der Zeit etwa 8.000 Somali-Schilling einem US-Dollar entsprach, ist auch ein sechsstelliger Schilling-Betrag letztlich ein übersichtlicher Dollarbetrag, und das Auto diesen allemal wert. Sicher enthält der Betrag auch noch „Gerichtskosten“, also eine „Aufwandsentschädigung“ für die beteiligten Clan-Ältesten.

Also stimmt Sven dem Deal zu, was er später seinen Chefs in Mogadischu noch erklären muss. Nach seinen Erläuterungen akzeptieren jedoch auch diese den Deal.

Ibrahim fährt mit dem Wagen anschließend zurück nach Mogadischu. Sven verteilt mit seinen Begleitern in den folgenden drei Tagen die Hilsgüter in einer größeren Anzahl von Dörfern und regionalen Städten , bevor auch er mit seinem Fahrer Gessi und allen anderen Begleitern wieder in Mogadischu eintrifft.

Fazit:

  • Manchmal erscheint eine auch zunächst ungewöhnliche Einigung sinnvoller als Gewalt und Krieg, wenn alle Beteiligten ihr „Gesicht“ erhalten können.
  • Das funktioniert jedoch nur bei gutem Willen aller Beteiligten sowie allseits anerkannten Regelungen (wie die Clantraditionen u Somalia des Jahres 1991 oder z.B. das internationale Völkerrechts in der heutigen Welt. „Restore Hope“, also die militärische Intervention in Somalia ab Dezember 1992 trug zur Schwächung dieser zuvor funktionierenden Traditionen bei, ohne ein alternativ funktionierendes System anzubieten. Daran leidet Somalia in gewisser Weise auch gut zwei Dekaden noch immer. Und was mag die derzeitige Schwächung des UN-Systems und des internationalen Rechts aus scheinbar egozentrischen nationalen Macht- und Finanzinteressen an langfristigem Schaden anrichten?